Rezension über das Buch von Rosmarie Welter-Enderlin:

Liebe braucht Alltag – Vom Wunsch zur Wirklichkeit

Kreuz Verlag, Freiburg, in: Psychologie heute, 37. Jg., Heft 10/2010


Zwischen Ich und Wir

Paare wollen alles: Kinder, Karriere und eine gute Partnerschaft. Wie kann das im Alltag gelingen?


Rosmarie Welter-Enderlin, eine der bekanntesten Pionierinnen der systemischen Paar- und Familientherapie, starb am 4. April des Jahres. Ihr Markenzeichen war das Zusammendenken von Herkunft und Zukunft, von Erhalten und Verändern – auch in Beratung und Therapie. Die von ihr dafür geprägte Metapher von „Wurzeln und Flügeln“ sowie zahlreiche wegweisende Veröffentlichungen werden sie überdauern.

Mit einem ihrer letzten Bücher ist die Gründerin und langjährige Leiterin des Ausbildungsinstituts für systemische Therapie und Beratung in Meilen (Schweiz) der Frage auf den Grund gegangen, wie Paare heute ihre Liebesideale im anstrengenden Alltag leben, wie sie Individualität, Beruf, Paarbeziehung und Familiengründung in eine lebbare Balance bekommen können.

In der heutigen „Multioptionsgesellschaft“ gibt es keine „einzig richtigen Verhältnisse“ mehr, alles ist verhandelbar – und muss dann auch immer wieder neu verhandelt werden. Das stellt hohe Ansprüche an Flexibilität und Kommunikationskunst der Einzelnen und der Paare.

Das Team des Meilener Instituts konstatierte, dass trotz zahlreich in den Medien postulierter Trends kaum bekannt ist, wie junge Paare das heute wirklich bewerkstelligen, und startete auf eigene Kosten ein Forschungsprojekt unter dem Titel „Junge Paare und Familien“.

Über vier Jahre befragte das Team 800 Paare (im Alter von Mitte 20 bis Mitte 40) zu ihren Geschichten, zur aktuellen Lebenssituation und zu Werten und Visionen – also einmal mehr „Wurzeln und Flügel“. Auf der Grundlage dieser Studie und ihrer jahrzehntelangen Beratungserfahrung stellt Welter-Enderlin in diesem Buch Überlegungen zum gesellschaftlichen Umbruch in Familienstruktur und -dynamik an, verbunden mit der Frage, wie Paare heute alltagspraktisch damit umgehen. Dafür skizziert sie vorab in fünf übersichtlichen Kapiteln „Familien und Paare im Wandel“, „Die unfertige Revolution im Verhältnis der Geschlechter“, „Zusammengehörigkeit in der Familie“, die häufigsten „Krisen in Übergangszeiten“ sowie „Frauen, Männer und Erwerbstätigkeit“.

In den folgenden acht Fallbeispielen fragt sie im Rahmen ausführlich dokumentierter Interviews nach Partnerschaftsform, beruflichen und finanziellen Herausforderungen, nach Kindern und Aufgabenteilung, aber auch nach Herkunftsfamilien – und gemeinsam begangenen Feiertagen. Vieles kreist dabei um die Schlüsselfrage: „Wie schaffen Sie es, in Ihrer Paarbeziehung ein Individuum zu sein und trotzdem zusammenzugehören und in einer verbindlichen Beziehung zu leben?“

In ihrer Zusammenfassung kommen Studie und Autorin zu dem Schluss: Die Ehe ist kein Auslaufmodell. Verbindlichkeit, Zugehörigkeit und Beständigkeit stehen – trotz zahlreicher medialer Unkenrufe – heute hoch im Kurs. Immer mehr Paare streben dabei eine Balance zwischen Ich und Wir an. Wie sie das konkret gestalten, darüber erfährt man in diesem auf einer fundierten Studie fußenden, leicht zu lesenden Buch mehr als in so manchem trendigen Schnellschuss-Ratgeber.


Hartwig Hansen, Hamburg